Montag, 31. März 2008

"Das Gesicht verlieren" Impuls zum Karfreitag 2008

Das Gesicht verlieren“
Impuls zu Karfreitag 2008 in St. Sebastian
(Georg Michael Kleemann)

Das Gesicht ist der Ort, an dem die körperliche und die soziale Existenz des Menschen am engsten miteinander verbunden sind. Das Gesicht macht uns unverwechselbar, mit ihm identi-fizieren wir uns. Und über das Gesicht treten wir miteinander in Kontakt, kommunizieren wir – nicht umsonst haben wir den gestrigen Gründonnerstag „von Angesicht zu Angesicht“ gefeiert.
So wichtig und bedeutungsvoll das Gesicht ist, so groß ist auch seine Verletzlichkeit. Und wiederum betrifft dies sowohl die körperliche als auch die soziale, zwischenmenschliche Dimension. Verletzungen im Gesicht empfinden wir als schwere Beeinträchtigung, als Entstellung; und werden solche Verletzungen willentlich zugefügt, dann bereitet das mehr als körperliche Schmerzen. Ein Schlag ins Gesicht ist immer auch ein Angriff gegen die Würde eines Menschen; und das bleibt auch so, wenn nur noch metaphorisch davon die Rede ist. Wird das Angesicht eines Menschen verletzt und verstümmelt, dann wird ihm die Möglichkeit genommen, ja das Recht darauf bestritten, anderen Menschen von gleich zu gleich zu begegnen und überhaupt Teil der Gemeinschaft zu sein. Nicht selten geht eine solche Demütigung einer wirklichen Hinrichtung voraus. Doch genauso gibt es umgekehrt einen sozialen Tod, der ohne sichtbare körperliche Anzeichen bleibt: Sein Gesicht verliert, wer – durch eigenes oder fremdes Verschulden – in seiner Identität, in seiner Integrität so beschädigt ist, dass er von den anderen oder auch von sich selbst nicht mehr als Teil einer Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft akzeptiert wird.
Das Geschehen, an das wir uns heute erinnern – und das wir gemeinsam feiern –, berichtet auf vielfältige Weise und auf verschiedenen Ebenen davon, wie Menschen ihr Gesicht – ihre Integrität, Identität und ihr Leben verlieren. Auf den ersten Blick ist es ganz eindeutig, um wen es geht, wer hier sein Gesicht verliert: In den „Gottesknechtsliedern“ bei Jesaja, die in der Karwoche gelesen werden, wird immer wieder auf das Gesicht bezuggenommen:

„Ich hielt meinen Rücken denen hin, die mich schlugen,
und denen, die mir den Bart ausrissen meine Wangen.
Mein Gesicht verbarg ich nicht vor Schmähungen und Speichel.“
(Jes 50,6)

Und gerade heute haben wir gehört:

„Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt sah er aus,
seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen. [...]
Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm.
Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden,
ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut.
Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet;
wir schätzten ihn nicht.“
(Jes 52,14; 53,2f.)


So eindeutig es auf den ersten Blick Jesus ist, der als Opfer der römischen Folter- und Hinrichtungsmaschinerie in sozialer wie in körperlicher Hinsicht sein Gesicht verliert, indem er den schändlichsten Tod der damaligen Zeit stirbt, so atemberaubend radikal ist die Umkehrung, die die Passionsgeschichte des Johannes vornimmt. Dort ist es nicht mehr Jesus, der scheitert. Er ist vielmehr auf dem unbestrittenen Höhepunkt seiner Sendung angelangt – und alle anderen scheitern an ihm. Nacheinander verlieren sie ihr Gesicht, ihre Integrität und Identität:
Da ist zunächst Petrus: für die johanneische Gemeinschaft, aus deren Kreis die Passionserzählung stammt, so etwas wie der Repräsentant der Mehrheitskirche oder ihrer amtlichen Führungsschicht. Schon im Abendmahlssaal versteht er Jesu Handeln nicht, jetzt zieht er das Schwert. Das ist nicht nur lächerlich gegen die ungeheure Übermacht, die da angeblich in den Garten kommt (und feige dazu, weil man, um jemandem das rechte Ohr abzuschlagen, als Rechtshänder hinter ihm stehen muss!). Petrus macht sich vielmehr in seinem militärischen Eifer den Amtsdienern und Soldaten der weltlichen Unterdrücker gleich, nicht zuletzt steht er im Hofe des Hohepriesters mitten unter ihnen. Da ist es dann fast nur konsequent, dass er das voreilige Versprechen, mit Jesus in den Tod zu gehen, nicht hält und stattdessen seine Anhängerschaft zu ihm verleugnet.
Die Handlanger – Amtsdiener und Soldaten – haben eigentlich ihr Gesicht schon damit verloren, dass sie sich in den Dienst der Mächtigen gestellt haben. Der Wortwechsel Jesu mit dem Knecht, der ihn – ins Gesicht! – schlägt, macht das nur offenkundig.
Dramatischer spitzen sich die Ereignisse während der Verhandlung vor Pontius Pilatus zu. „Die Juden“ – wie es immer wieder heißt, auch wenn bisweilen nur von ihrer Führungsschicht, den Hohepriestern und Schriftgelehrten, die Rede ist –, „die Juden“ wollen sich nicht kultisch unrein machen, indem sie das Prätorium betreten, haben aber keine Skrupel, die Hinrichtung eines Unschuldigen mit allen Mitteln durchzusetzen. Auf die Frage von Pilatus nach der Anklage weichen sie aus, auf das Freilassungsangebot hin verlangen sie nach Barabbas, einem bekannten Verbrecher, und unter den Einflüsterungen der Meinungsmacher verwandeln sie sich zunehmend in einen gesichtslos tobenden Mob, der nach Blut dürstet.
Pilatus ist um keinen Deut besser. Ihm ist die ganze Angelegenheit zunächst einfach nur lästig, und obwohl er von der Unschuld Jesu überzeugt zu sein scheint, kann er es nicht lassen, als Vertreter der Besatzungsmacht mit den Juden zu spielen und ihnen das Spottbild eines „Judenkönigs“ vorzuhalten, um so ihren politischen Traum lächerlich zu machen. Doch auch der zynische Machtmensch Pilatus hat die Fäden nicht in der Hand. Als er es mit der Angst zu tun bekommt, Jesus könnte vielleicht doch ein mit irgendeiner „göttlichen Macht“ ausgestatteter Mann sein, und ihn freilassen will – da erinnert ihn die wütende Menge daran, dass er selbst nur ein Rad im politischen Getriebe ist, das man leicht durch Denunziation an höherer Stelle beseitigen kann – aus dem „Freund des Kaisers“ wird dann schnell ein politischer Niemand.
Doch um welchen Preis gelingt es „den Juden“, ihren Willen durchzusetzen! Wenn sie auf die letzte, verzweifelte Stichelei des eigentlich schon besiegten Pilatus antworten, dass sie außer dem Kaiser keinen anderen König hätten – dann ist das nicht nur die Aufgabe ihrer politischen Freiheitsträume eines messianischen Königtums, sondern geradezu ein direkter Abfall von Gott, denn nach den Schriften des Alten Testaments ist der einzig wahre König über Israel nur Gott selbst.
So stehen wir nach dem Prozess vor Pilatus vor einem Trümmerfeld. Wenn der Befehl zur Kreuzigung ergeht, ist es gerade Jesus, der als einziger sein Gesicht gewahrt hat. Diejenigen, die über ihn zu Gericht zu sitzen glaubten, sind selber gerichtet – und haben sich das sogar selbst, ohne Jesu Zutun angetan.
Damit ist die Geschichte des Gesichtsverlustes allerdings noch nicht beendet. Denn gerade die undankbare Rolle, die „die Juden“ in der Johannespassion spielen, wurde in der Geschichte des Christentums zu einem Grund dafür, die wirklichen Juden als treulose Verräter anzusehen, sie auszugrenzen, zu verfolgen oder umzubringen. Der Text, der eigentlich von der Hinrichtung des Juden Jesus aus der Perspektive einer bedrohten judenchristlichen Minderheitsgemeinde erzählt, kippt um, und macht aus der verfolgten Kirche eine verfolgende. In der darauf folgenden, Jahrhunderte langen Geschichte waren es dir Christen, die ihr Gesicht verloren haben.
Allerdings fällt es schwer, aus diesem Umkippen eine Lehre zu ziehen. Allzu leicht wäre es zu sagen, dass aus Opfern immer wieder Täter werden (und umgekehrt), und damit das Opfer- und Tätersein so zu verallgemeinern, dass schließlich alle Katzen grau sind. Dagegen muss es den Opfern zugestanden bleiben, die Tat der Täter zu benennen und anzuklagen. Und es muss möglich bleiben, gegenüber einer offiziellen Geschichte, die (wenn überhaupt) nur von der Hinrichtung eines Verbrechers berichtet, einen subversive Gegengeschichte zu erzählen, die die Perspektiven und auch das Urteil umkehrt, so wie es die kleine, bedrängte Gemeinde um Johannes selbstbewusst getan hat. Doch zugleich bleibt das Wissen darum, dass es sich bei einer solchen Deutungsumkehr um eine zweischneidige Waffe handelt, die einen, wie jede Waffe, schnell auf die Seite eines Täters bringt.
Von einem Geschehen, wie es an Karfreitag im Mittelpunkt steht, sollte man ohnehin keine klaren Antworten verlangen. Vielleicht aber kann man der Ambivalenz, der Zweischneidigkeit, mit einer zweiten Sichtweise begegnen, wenigstens um zu zeigen, dass es (mindestens) auch immer noch eine solche weitere Sichtweise gibt. So hören wir gleich die Fortsetzung der Passionsgeschichte nicht mehr in den Worten des Johannesevangeliums, sondern in denjenigen des ältesten Evangeliums nach Markus. Hier ist Jesus nicht der Souverän am Kreuz, der das Geschehen in der Hand hat. Hier macht er noch selbst bis zum Verzweiflungsschrei den Abgrund der Gottesferne durch. Doch bleibt es auch bei Markus nicht bei dem einfachen, entsetzten Blick auf das Grauen. Das Geschehen am Kreuz, der gottlose Tod schlechthin, gibt den Blick frei auf Gott selbst – versinnbildlicht durch den zerrissenen Vorhang im Tempel vor dem Allerheiligsten. So wird zumindest eine Gewissheit markiert, die allen Texten – Jesaja, Johannes, Markus – gemeinsam ist: Gott wird nicht anders gegenwärtig als im Blick auf den Gekreuzigten und die Gekreuzigten der Geschichte – in einem Blick allerdings, der darin mehr sieht als nur das Ende. Die Tatsache, dass diese Einsicht bei Markus von dem Hauptmann ausgesprochen wird, von einem Angehörigen der Täterseite also, drückt zumindest die Hoffnung aus, dass es mit diesem neuen Blick auch wieder zu jener offenen, gleichberechtigten Begegnung kommen kann, zu der jedes einzelne Gesicht immer neu auffordert.